Vis-à-Vis  

Eine malerische Begegnung zwischen Carolin Beyer und Annette Selle
Ausstellung vom 21. März - 02. Juni 2024
Öffnungszeiten Do - So, 11 - 17 Uhr
Kunsthaus Kappeln, Poststraße 5, 24376 Kappeln
www.kunsthaus-kappeln.de

Liebe Anette Selle, liebe Carolin Beyer,

lieber Herr Burkhart und lieber Jörg, liebe Gäste,

ich habe heute das große Vergnügen, die Ausstellung zweier wunderbarer Künstlerinnen hier bei uns im Kunsthaus Kappeln eröffnen zu dürfen. In den letzten Wochen habe ich daher die Werke dieser zwei Frauen recherchiert, ein wenig über ihren Lebenslauf gelernt - eine von ihnen, Anette Selle hat an der Kunsthochschule Berlin Weißensee studiert, die andere, Carolin Beyer, an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg - habe auf ihren Webseiten gewildert, und komme jetzt mit einigen Ideen zu Ihnen, um Ihnen hoffentlich ein wenig die Augen für diese wahnsinnig schönen Arbeiten zu öffnen, Ihnen einen Ihrem Alltag vielleicht etwas fremden Blick für Farbe, Licht und Signale in einem erfahrbaren, realen, aber von vielen von uns doch eher selten erprobten Raum zu öffnen. Eine passende Einleitung habe ich mir von Caroline Beyers Webseite gestohlen, einen Satz, der mich sofort angesprochen hat, weil er von dem von mir sehr geliebten Französischen Filmemacher Jean-Luc Godard, den Meister des Lichts stammt. (Sie wissen schon: Jean-Paul Belmondo und Jean Seaberg in Atemlos oder Une femme is une femme) Art is not the reflection of reality, it´s the reality of a reflection. Diese Worte passen gut zu den Bildern einer Künstlerin, die unter anderem Werke im Erzbistum Hamburg, in der Katholischen Kirche St. Elizabeth in Hamburg und in der Pauluskirche in Vladivostok zeigt, wo sie jeweils Fenster in andere Welten öffnen. Sie passen auch in die Energie der Farben von Anette Selle. Was ich mit dem Begriff „andere Welten“ meine, die uns sowohl in der Farb- und Formensprache von Anette Selle als auch in den lichterfüllten Bildern von Carolin Beyer entgegentreten, bedarf der Erläuterung, und dafür darf ich um ein wenig Geduld bitten. Es geht in beiden Werken um das Sehen, dies sind keine Bilder linearer, plakativer Botschaften. Sie verlangen weniger eine intellektuelle Befassung mit ihrem Gegenstand, als ein Einlassen auf das Sehen und auf das, was das Sehen für den Menschen ist, und wie es das Verstehen, das Verstehen vor dem rationalen Prozess der Sprache, oder auch immer parallel dazu, prägt. Unsere Alltagsannahme über das Sehen geht vielleicht so: Mit unseren Augen nehmen wir eine endliche, in der Gegenwart erscheinende Menge dreidimensionaler Objekte wahr, ruhend oder bewegt. Was wir sehen, so meinen wir (recht alltagstauglich), was ist, und wo wir im Verhältnis zu diesen Objekten stehen. Dies ist eine verkürzte Form des Sehens, alltagstauglich, das uns über das mögliche Sehen so viel sagt, wie ein mit einem Finger auf dem Klavier gespieltes Kinderlied über die Möglichkeiten des Instrumentes. Ich fange an dieser Stelle nicht damit an, ob wir uns sicher sein können, dass diese Objekte im Raum überhaupt existieren. Ein Großteil der Bausteine, die ein Objekt machen, besteht aus Leere und elektromagnetischen Spannungen. Dies ist für einen anderen Tag. Aber wenn Sie ein Objekt über den Verlauf einiger Stunden oder eines Tages beobachten, werden Sie feststellen, dass es mit der Beschreibung seiner Farbe, seiner Position, mit Beweglichkeit und Ruhe, doch recht kompliziert aussieht. Allein die Farbe eines jeden Objektes Ihrer Umgebung ist in einem ständigen fließenden Wandel, das sanfte lichte Rot, das ein alltäglichen Objekt in Ihrer Küche am Morgen zeigen mag, leuchtet am Vormittag auf, wäscht Mittags aus, vertieft sich in den Nachmittagsstunden, spiegelt sich in der Dämmerung in seinen eigenen Schatten, bevor es am Abend zu einem stumpfen Braun, dann einem Grau wird, um vielleicht durch elektrisches Licht in einen ganz anderen Raum geweckt zu werden. Sie alle kennen den Augenblick kurz bevor Sie sich entscheiden, das Licht einzuschalten, nehmen diesen Wechsel wahr, der Ihnen einen kurzen schwindelhaften Augenblick die Illusion des Sehens vor Augen führt. Dieser kurze Schwindel ist für das Auge der Malerin der Dauerzustand der Profession. Denn tatsächlich sehen Sie ja nicht „das Objekt“. Das Objekt ist das Ergebnis einer Leistung ihres Gehirns, einer Meisterleistung, die voraussetzt, dass Sie den Prozess des Sehens nicht beständig in Frage stellen, ebensowenig wie die illusionäre Permanenz des Tisches in Ihrem Esszimmer oder Ihrer eigenen Person. Dieser existentielle Schwindel, der vor und nach der Sicherheit des Objekts liegt, das ist der Raum der Kunst, von Thomas Tallis in der Musik über Luc Godard im Film über David Hockney zu Carolin Beyer und Annette Selle in der bildenden Kunst. Unser Gehirn webt Annahmen aus Informationen, die unser Auge im sichtbaren Bereich des elektromagnetischen Spektrums an das Gehirn weiterleiten kann, einem kleinen Ausschnitt aus diesem Spektrum im Bereich von ca. 400 Nanometern bis zu 780 Nanometern. Diesen Bereich nennen wir Licht. Licht - eine elektromagnetische Welle - benötigt Zeit, sich auszubreiten. Das bedeutet, dass jeder Blick auf ein Objekt, ein Bild, einen Menschen, unwiderruflich ein Blick in die Vergangenheit ist. Das können wir uns eigentlich nur im großen Maßstab verdeutlichen. Der Blick in unsere Milchstraße, die einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren hat, ist ein Blick, der 100.000 Jahre in die Vergangenheit geht. Vergleichsweise dazu ist der Blick in die Vergangenheit des leuchtenden Blaus in Anette Selles Bildern eine Reise in einer sehr viel kürzer zurückliegende Vergangenheit, kaum wahrnehmbar vielleicht, aber nicht weniger real. Es bleibt dabei: Alles, was uns von der Welt erreicht, ist ein Zeichen aus der Vergangenheit. Die Bilder, die uns hier heute umgeben, sind Lichtträger, Medium einer Vergangenheit noch in der Präsenz Ihrer direkten Anwesenheit vor dem Objekt. Wenn ich über die Bilder von Anette Selle und Carolin Beyer spreche, dann spreche ich über Lichträume, über Farben, die nicht sind, bis Sie in Ihren Augen, in Ihrem Gehirn, wieder-entstehen. Bilder, die mit eben dieser Intention arbeiten, Lichtraum zu sein. Hier sind Sie als Betrachtende Spielball einer doppelten Reflexion. Die Künstlerin empfängt das Licht als Botschaft ihres Augenblicks, des Augenblicks eines existenziellen Schwindels im Alltag, in dem das Leben ohne Botschaft in Großbuchstaben über sich selbst spricht, über das, was, mit Ruhe und Reflexion wahrnehmbar ist, ganz am Anfang des Sehens. S ie öffnet das Fenster in diese Wahrnehmung und hält es geöffnet, damit Sie hineinsehen können in diesen anderen Raum. Die Bilder beider Künstlerinnen sprechen über das, was wir entgegen unserem beharrlichen Glauben an die Permanenz der Objekte doch wahrnehmen können, wenn wir uns darauf einlassen, und sie Zeit nehmen. Sie sind eine Schule des Sehens, des Wahrnehmens und des Denkens. Ich darf Sie noch auf eine kleine weitere naturwissenschaftliche Reise nehmen: Ihr Gehirn arbeitet mit der Annahme, dass Lichtstrahlen sich immer geradlinig ausbreiten. Aus diesem Grund erscheinen Gegenstände in der Reflexion eines Spiegels wie in einem eigenen Raum, auch wenn Sie - vor dem Spiegel oder der Schaufensterscheibe stehend - verstehen, dass das Licht tatsächlich von einer glatten Oberfläche zurückgeworfen wird. Sehen können Sie dies nicht. Diese Illusion können Sie mit Ihrem Wissen nicht auflösen, vor Ihren Augen steht das gespiegelte Objekt wenngleich seitenverkehrt doch ganz real „im Spiegel“. Zugleich unerreichbar. Aber Sie können sich diesen Effekt zunutze machen, wenn Sie ein Bild betrachten. Stellen Sie sich vor das Bild wie vor einen Spiegel , schließen Sie einen Augenblick Ihre Augen, öffnen Sie sie wieder, um nicht auf, sondern in das Bild zu blicken. das funktioniert, in diese Richtung können Sie Ihre Wahrnehmung tatsächlich führen, probieren Sie es aus. Und dann überzeugen Sie sich, dass Sie das, was Sie dort sehen, das ist, was aus dem aktuellen Raum, in dem Sie stehen, auf die Oberfläche des Bildes reflektiert wird. Dann sind sie ganz nah am Geheimnis der Farbe und des Bildes. Dann sind Sie in der Gegenwart der „reality of reflection“, der Realität der Reflektion in der Gegenwart von der Godard spricht, und den Carolin Beyer aufgreift. Anette Selle erkundet - mit ihren eigenen Worten - eben dieses „tiefe Eintauchen in Textur und Farbe, die jeden Raum mit seiner Präsenz füllt, die Zugang zu einer mystischen Energie (Anmerkung: Licht) schafft und in einer Welt des Nachdenkens und der inneren Ruhe führt. Die Titel ihrer Arbeiten geben Hinweise auf diesen Aspekt des Lichtes, der Energie, des Geistes - und ich würde sagen, genau hier treffen sich die beiden Künstlerinnen: „Die Geister, die ich rief“ und „Engelsgleich“. Nach dem Johannes-Evangelium: Am Anfang war das Wort. In im war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Auch in den Menschenbildern von Carolin Beyer wird das Licht der alltäglichen Existenz zu einer alltäglich wundersamen, bemerkenswerten Existenz, der fließenden und vergehenden Wahrheit des Augenblicks. Das alles sind leise, meisterhafte Zwischentöne, sehr wohltuend in einer Zeit, die nach großen, linearen Erklärungen strebt. Licht und Farben sprechen über eine stille, strahlende Beharrlichkeit einer fortwährenden Erkundung der Wahrnehmung, die Künstlerin und Betrachtende teilen. A simple, quiet way to a life well lived, beide Werke sprechen davon. Sie sind wunderschön, komplex und einfach zugleich. Ich wünsche Ihnen beim Gang durch diese ganz besondere Ausstellung die innere Stille und den Blick aus Ihrem vielleicht nicht mehr ganz so undurchlässigen, permanenten Raum in diese Bilderwelten. Und lassen Sie, dies zuletzt, die Bilder sich in den Bildern reflektieren. Was geschieht, wenn Licht auf Licht trifft? Herzlichen Dank

Vis-à-Vis
Eine malerische Begegnung zwischen Carolin Beyer und Annette Selle
Ausstellung vom 21. August - 11. September 2022
Kunstverein-Elmshorn